Wenn die Seele Futter will
erschienen im stern 9/2009
Die Figur hat sehr viel mehr mit dem Gefühlsleben zu tun, als Forscher lange dachten:
Stress ist ein machtvoller Dickmacher - und der richtige Umgang mit Belastungen kann helfen, endlich schlank zu werden.
Fünfter Anlauf! Seit mehr als einer Stunde versuchte Krankenschwester Kerstin Schmidt, endlich Zeit für eine Kaffeepause zu finden. Doch immer wenn sie gerade auf dem Weg ins Schwesternzimmer war, klingelte das Telefon. Oder ein Kollege fragte nach der Dosis für ein Medikament. Oder ein Patient drückte die Ruftaste. Die 79-jährige Schlaganfallpatientin aus Zimmer 17 hatte heute Morgen schon dreimal geläutet, nur um immer wieder dieselbe Frage zu stellen: "Werde ich wieder laufen können?" Jetzt also noch einmal das Telefon.
Ehe Kerstin Schmidt nach dem Hörer griff, angelte sie sich eine Waffel mit Nussfüllung aus einer Schale voller Süßigkeiten. Nusswaffeln halfen. Schokoplätzchen, Vanillekipferl und Trüffelpralinen halfen, Mars und Snickers, Milka und Marzipan waren freundliche Tupfer im wirbelnden Alltag. Seelentröster, die für den Augenblick entspannten. Kerstin Schmidt ahnte, dass dies einer der Gründe sein mochte, weshalb sie aus der Form geraten war. Viele Jahre lang hatte sie ihren Speckpolstern immer aufs Neue den Kampf angesagt, Diäten probiert, aber am Ende doch nur zugenommen. Richtig schlimm wurde es, als sie die Leitung eines Pflegeteams übernahm, inzwischen wog sie 142 Kilo. Dabei war Kerstin Schmidt durchaus willensstark: Mit dem Rauchen konnte sie von einem Tag auf den anderen aufhören. Warum ging das nicht mit den Nusswaffeln? Mit den Schokoplätzchen und Kipferln?
Eine Frage, die auch die Wissenschaft beschäftigt. Wie kommt es, dass selbst disziplinierte Leute es oft nicht schaffen, ihr Gewicht auf Dauer im Griff zu behalten? Wie ist es möglich, dass uns die Lust auf Essen treibt - selbst, wenn wir keinen Hunger haben? In jüngerer Zeit ist es vor allem die Hirnforschung, die neue Antworten auf diese Fragen sucht und die damit Millionen von Diätgeplagten wieder Hoffnung schenken könnte: Übergewicht, so zeigen aktuelle Untersuchungen immer deutlicher, hat sehr viel mehr mit unserem Gefühlsleben zu tun als Forscher lange dachten. Stress und Frust sind potente Dickmacher. Und umgekehrt gilt: Der richtige Umgang mit ihnen hilft, aus langjährigen Pummeln wieder Schlanke zu machen.
Die Macht des Essens
Schon bei ausgeglichenen Normalgewichtigen ist die Steuerung von Appetit und Sättigung ein diffiziles Zusammenspiel von Sinnen und Organen mit vielfältigen Auswirkungen auf die Psyche: Mehr als 100 Signalstoffe sorgen für die Kommunikation zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers, wenn wir Appetit auf ein Schokotörtchen bekommen oder spontan ein Käsebrötchen kaufen. Am Anfang steht ein Mangel von frei verfügbaren Nährstoffen im Organismus, vor allem von Glukose und Fett. Das Gehirn registriert den Nachschubbedarf, während gleichzeitig vom Magen die ermunternde Nachricht eingeht, dass er völlig leer ist - Platz für neue Energiespender! Damit wir tun, was der Erhaltung unseres Körpers dient, erzeugen verschiedene Substanzen im Hirn nun im Zusammenspiel mit unserem Nervennetzwerk ein angenehm drängendes Gefühl: Appetit - in süddeutschen Dialekten treffend und lustbetont "Glust" oder "Gluschd" genannt - entfaltet sich in Lecker-Fantasien und Schlemm-Visionen. Schon die Vorstellung vom Schokotörtchen genügt bei den meisten Menschen, damit ihnen jetzt das Wasser im Munde zusammenläuft. Das Belohnungssystem des Gehirns wird in Erwartung des realen Törtchens aktiviert, der Stoffwechsel wegen anstehender Verdauung hochgefahren. Wenn das Objekt der Begierde schließlich greifbar wird, duftend und hübsch arrangiert, gibt es kein Halten mehr. Und was dann folgt, bildet den Kern der verführerischen Macht des Essens: Die Nahrungszufuhr dämpft das Stresssystem, Belohnungs-Callzentren im Gehirn schütten Glückshormone aus, die Stimmung färbt sich warm und wohlig, Bedrohungsgefühle schrumpfen zusammen. Besonders wirkungsvoll in dieser Hinsicht ist die kalorienreichste kulinarische Kombination: Fett plus Zucker. Schokolade kommt dem idealen Wohlfühlmix sehr nahe.
Das wäre alles in Ordnung - wenn die Zufuhr tröstender Törtchen gewichtsneutral geregelt würde. Doch leider ist, das können Forscher zuverlässig zeigen, die filigrane Botenstoffbalance keineswegs stabil. Und es sind die ohnehin Geplagten und Gestressten, die darunter ganz besonders leiden. Druck im Job oder eben kein Job, eine schwierige Partnerschaft, fortdauernde Sorge um die Kinder, die alten Eltern, den Kredit - all das kann nicht nur aufs Gemüt gehen, sondern auch auf die Hüften. Denn viel mehr als ausgeglichenere Zeitgenossen sehnen sich die Belasteten nach den guten Gefühlen, die Schokoriegel, Butterhörnchen und Vier-Käse-Pizza spenden können.
Bei Thomas Beck waren es zwei klassische Stressfaktoren, die die Lust aufs Essen befeuerten: Arbeitslosigkeit und der Tod der Mutter. Häufig lud er Gäste ein. Aber es gab auch die vielen einsamen Tage, die vielen schlechten Gefühle. "Ich habe angefangen, aus Langeweile und Frust zu essen", sagt der 31-jährige Bürokaufmann. "Gummibärchen, Schokolade, Chips, was ich kriegen konnte, vor allem vor dem Fernseher." Wer solch ein Trostessen über Jahre hinweg praktiziert, sorgt dafür, dass die positive Verknüpfung in seiner Steuerzentrale immer stärker wird. Er isst immer mehr - und wird immer dicker.
Einfluss der Psyche auf Essgewohnheiten
Fatalerweise fällt den meisten Gebeutelten gleichzeitig eine Diät, der Verzicht also auf die kleinen Glücksbringer, ganz besonders schwer. Eine, die das lernen musste, ist Becks Leidensgenossin Manuela Willmann*. Auch die 37-jährige Callcenter-Telefonistin ist ein Fall von massivem Stress: Sie leidet unter den Belastungen der Schichtarbeit, ihr Chef ist ungeduldig und übellaunig. Noch nie hatte Manuela Willmann eine feste Beziehung, oft fühlt sie sich allein und bedrückt, ein reich gedeckter Tisch ist ihr einziger Ausgleich nach einem nervenraubenden Tag. Als sie 104 Kilo wog und an der Galle operiert worden war, verordnete ihr der Arzt eine Reduktionskost mit nur 1000 Kalorien am Tag, dazu Nordic Walking. Doch Manuela Willmann schaffte das nur wenige Tage. Das magere Putenfleisch und die empfohlenen Gemüseportionen reichten ihr nicht. Sie wurde unruhig, hielt es einfach nicht mehr aus.
Wie stark das Seelenleben auf den Bauchumfang wirkt, belegt eine finnische Studie an eineiigen Zwillingen: Normalerweise ist das Gewicht von genetisch nahezu identischen Geschwistern fast gleich. Doch die finnischen Wissenschaftler fahndeten gezielt nach ungleichen Paaren, bei denen ein Zwilling deutlich korpulenter war als der andere. Sie fanden heraus, dass jeweils der dickere im Gegensatz zum leichteren Zwilling entweder unter psychosozialem Stress, Unzufriedenheit, Depression, Burnout-Syndrom oder Schlafproblemen litt. Die fülligeren, gestressten Zwillinge hatten bis zu dreimal so viel Bauchfett
entwickelt.
Weitere aktuelle Untersuchungen belegen, dass belastende Lebenssituationen sogar dann die Fettpolster anschwellen lassen, wenn der Organismus gar nicht mehr Nahrung bekommt. Forscher vermuten, dass das durch die Belastung vermehrt freigesetzte Cortisol den fein austarierten Stoffwechsel verändert. Offenbar bewirkt es eine effektivere Verwertung der Nahrung, die in Zeiten existenziellen Stresses für unsere Vorfahren sogar sinnvoll gewesen sein mag. Heute erzeugt der Speck einfach zusätzlichen Frust.
Coach-Potatoes
In seinem gerade erschienenen Buch "Lizenz zum Essen" beschreibt der Heidelberger Arzt Gunter Frank anonymisiert einen prägnanten Fall aus seiner Praxis, der die Forschungsergebnisse bestätigt: "Der neue Chef von Herrn Rundlich war unberechenbar und wollte, dass dieser bestimmte Mitarbeiter mobbt, damit sie freiwillig die Firma verlassen. Herr Rundlich weigerte sich und bekam dann selbst Schwierigkeiten. In dieser Zeit legte er deutlich an Gewicht zu. Vor allem sein Bauch war angeschwollen, und er wog über 100 Kilo. Ich konnte ihn überzeugen, keine Diät zu machen und stattdessen über berufliche Veränderungen nachzudenken. Erst zwei Jahre später ergab sich für ihn eine andere berufliche Möglichkeit, in der er sich viel wohler fühlte. Nach einem Jahr wog er etwa zehn Kilo weniger, und dieses Gewicht hält er nun, ohne je bewusst irgendwelche Veränderungen am Essverhalten vorgenommen zu haben."
Offenbar ist alles, was Körper und Seele nachhaltig stresst, dazu geeignet, das Gewicht in die Höhe zu treiben. Bei Wilfried Kuhr war es kein Chef, sondern der Job an sich: Die ganze Woche musste er als Fernfahrer unterwegs sein, er schlief wenig, fand auch sonst kaum Ruhe. Sicher, der 188-Kilo-Mann aß viel und falsch. Aber nach allem, was die Wissenschaft heute weiß, dürfte das eben nicht sein einziges Problem gewesen sein. So sind etwa Schichtarbeiter häufiger übergewichtig als Menschen, die ausschließlich tagsüber ihrer Arbeit nachgehen und regelmäßig schlafen - selbst wenn sie nicht mehr essen. Und bei einer Befragung von rund 1000 Personen fand der amerikanische Schlafforscher Robert Daniel Vorona heraus, dass dicke Menschen im Schnitt 16 Minuten weniger schlafen als schlanke. Die zusätzlichen Pfunde seien nicht allein dadurch zu erklären, so Vorona, "dass man mehr isst, wenn man länger aufbleibt". Der Körper scheint bei mangelndem Schlaf leichter Fett anzusetzen, selbst bei gleichbleibender Nährstoffzufuhr.
Genauso sind das ungezügelte Vertilgen von Knabberwaren und Süßigkeiten vor der Mattscheibe und der vermeintliche Bewegungsmangel der Couch-Potatoes nicht allein die Gründe, weshalb Fernsehen unter Experten als Dickmacher Nummer eins gilt. Vielmehr beeinflusst auch der Fernsehkonsum direkt den Stoffwechsel, indem er den Pegel des Stresshormons Cortisol nach oben treibt. Zudem spricht vieles dafür, dass das Dauergeflacker in den Abendstunden die Hirnregion irritieren kann, die über unseren Tag-Nacht-Rhythmus wacht. Es ist derselbe Bereich des Gehirns, in dem auch die Informationen zur Gewichtsregulation zusammenlaufen: der Hypothalamus.
Auswirkungen von Fernsehkonsum
In einem Versuch mit zwei Schulklassen im kalifornischen San José hatten die Forscher der Stanford University BMI, Taillenumfang, Ernährungs- und Fernsehgewohnheiten der Kinder ermittelt. Dann wurden die Schüler einer Klasse dazu angehalten, die Zeit für Fernsehen und Videospiele zu reduzieren. Nach einem halben Jahr hatte eine durchschnittliche Verkürzung der wöchentlichen Fernsehzeit von 15 auf 9 Stunden bei vielen der zurückhaltenden Fernsehgucker zu einer merklichen Abnahme des Körpergewichts und des Taillenumfangs geführt. Der Verzehr von Snacks spielte dabei kaum eine Rolle. Eine der größten amerikanischen Gesundheitsstudien, die Nurses' Health Study, an der mehr als 50.000 Krankenschwestern über einen Zeitraum von sechs Jahren teilnahmen, zeigte nicht nur, dass diejenigen Frauen, die am meisten Zeit vor der Glotze verbrachten, am meisten zunahmen, sondern auch, dass ausgiebiges Fernsehen den größten Einfluss auf die Gewichtszunahme hatte - mehr als Naschen oder Bewegungsmangel.
Besonders heimtückisch ist: Mit dem Anwachsen der Fettpolster sinkt die Bereitschaft zu körperlicher Aktivität, der Mensch wird träge - und dadurch noch dicker.
Nach wie vor predigen viele Abnehmexperten, dass guter Wille und Gemüseteller jeden Speckbauch schmelzen lassen. Aber viele, die es betrifft, sind inzwischen klüger. "Anfang letzten Jahres ist mir bewusst geworden, dass ich immer anfange zu essen, wenn ich unter Druck stehe", sagt etwa Lena Oden. Da hat sie "die Vollbremse gezogen". Nicht mit einer Diät, sondern mit selbst verordnetem Anti-Stress-Training: Wenn sie Frust hatte, holte sie sich nichts mehr zum Schlemmen, sondern reagierte sich beim Fitnesstraining ab. Sie lernte Entspannungstechniken, wurde ruhiger. Die Essbedürfnisse, sagt sie, veränderten sich dabei fast von selbst - und mit ihnen das Gewicht. Aus 98 Kilo wurden 66.
Das "selbstsüchtige Gehirn"
Auch erste Kliniken haben die Erkenntnisse der Wissenschaft in ihre Konzepte integriert: Sie bieten Spezialkost und Sport für aus der Form geratene Körper - und therapieren zugleich die Psyche. So lernen etwa Patienten in der Bad Rothenfelder Klinik Teutoburger Wald Stressabbautechniken wie die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Sie strecken sich mit geschlossenen Augen auf Liegesesseln aus, während eine Therapeutin mit ruhiger Stimme die Aufmerksamkeit auf verschiedene Körperpartien lenkt. Von Kopf bis Fuß werden nacheinander die einzelnen Muskelpartien zunächst angespannt, und nach kurzem Halten wird die Spannung wieder gelöst. Durch Konzentration auf den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung und die damit verbundenen Empfindungen lässt sich die Körperwahrnehmung verbessern und tiefe Ruhe erzielen. In der Deutschen Klinik für Naturheilkunde und Präventivmedizin im saarländischen Püttlingen wird zusätzlich zu solchen Entspannungsmethoden auf psychotherapeutische Sitzungen Wert gelegt. Übergewichtige finden dort Anleitung, wie sie belastende Lebenssituationen und Dauerstress besser in den Griff bekommen.
Besonders konsequent ist man an der Uniklinik Lübeck, und dies auf der Grundlage eigener Forschungen. Ein Team aus Medizinern, Hirnforschern, Psychiatern und Mathematikern hat die Zusammenhänge von Gewichtsentwicklung und Hirnstoffwechsel im Detail analysiert. Mit bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie gelang es den Wissenschaftlern, während verschiedener Belastungssituationen die Energieversorgung im Gehirn im Vergleich zum restlichen Körper zu messen. Dabei konnten sie zeigen, dass das Gehirn immer zuerst die eigene Versorgung sicherstellt, bevor es der Muskulatur, den Organen oder dem Fettgewebe etwas zuteilt. Die Forscher sprechen vom "Selfish Brain", vom selbstsüchtigen Gehirn.
Kein anderer Bereich des menschlichen Organismus ist so gefräßig wie die Zellen im Schädel. Obwohl sie bei Erwachsenen nur etwa zwei Prozent des Körpergewichtes ausmachen, verbrauchen sie etwa die Hälfte des Glukosezuckers, den wir täglich verzehren. "Das Gehirn orchestriert und manipuliert den Energiestoffwechsel", erklärt der Leiter der Forschungsgruppe, der Internist Achim Peters. "Wenn es ihm nicht gelingt, ausreichend Nachschub für sich aus dem Körper anzufordern, kompensiert es die Unterversorgung dadurch, dass es die Nahrungsaufnahme steigert und den Energieüberschuss dem Körper überlässt. Auf diese Weise kann langfristig eine Fettleibigkeit entstehen." Und was kann dazu führen, dass das Gehirn sich nicht ausreichend mit Glukose versorgt? Was bewirkt die "falsche Einstellung", die unseren Appetit steigert, obwohl längst genügend Nährstoffe zur Verfügung stehen? Auch hier ist die Antwort: Daueralarm für Körper und Seele. Gerät das Stresssystem über einen längeren Zeitraum ins Ungleichgewicht, könne das zu einer unnatürlichen Steigerung des Appetits führen, sagt Peters. "Durch chronischen Stress, Frust, Depression oder psychische Traumatisierungen gerät das Wechselspiel zwischen Hirnstoffwechsel und Stresssystem durcheinander, und das kann das Körpergewicht in die Höhe treiben."
"Train the Brain"
Auf der Grundlage dieser Ergebnisse erarbeiten die Wissenschaftler der Universität Lübeck derzeit ein neuartiges Abnehmkonzept, das sie "Train the Brain" nennen, trainiere das Gehirn. Sie setzen dabei neben regelmäßiger sportlicher Betätigung vor allem auf Gesprächstherapie, Verhaltenstraining, Entspannungsübungen sowie auf eine Verbesserung des Umgangs mit Emotionen.
Krankenschwester Kerstin Schmidt hat im vergangenen Jahr zusammen mit zehn anderen Patienten an dem Pilotprojekt teilgenommen und ohne jegliche Diät schon zwölf Kilo abgenommen. Und sie ist zuversichtlich, dass die Pfunde weiter purzeln werden. Wie alle Probanden bekam die 42-Jährige psychotherapeutische Unterstützung bei der Bewältigung von Konflikten im Alltag. So stellten die Programm- Teilnehmer in Rollenspielen Auseinandersetzungen mit Partnern oder mit Vorgesetzten und Kollegen nach und suchten Wege, die Probleme besser zu lösen. Außerdem lernte Kerstin Schmidt Entspannungsübungen und Achtsamkeitstechniken, mit denen sie ihre Emotionen besser wahrnehmen und einschätzen kann. Beim Essen gab es im Prinzip keine Verbote. Dreimal täglich durften sich die Probanden richtig satt essen. Lediglich Zwischenmahlzeiten waren tabu, um Stressbewältigung mit süßen Snacks von vornherein zu unterbinden. Und auch Lebensmittel mit künstlichen Süß- oder Aromastoffen galt es zu meiden, weil diese das Appetitsystem irritieren könnten.
"Ich habe seither einiges verändert", sagt Kerstin Schmidt selbstbewusst. "Zum Beispiel habe ich eine echte 30-minütige Pause bei meinem Pflegeteam eingeführt. Wenn es klingelt, muss die Bereitschaft ran, die anderen haben wirklich Ruhe." Das Naschen hat sie weitgehend im Griff. Außerdem achtet die engagierte Krankenschwester nun mehr auf sich, macht dreimal pro Woche Gymnastik und Gerätetraining im Fitnessstudio - und versucht, täglich zu meditieren. Seither endet ihr Tag mit Ruhe, nach all der Hektik im Krankenhaus: Sie sitzt entspannt auf einem Stuhl, schließt die Augen und konzentriert sich auf einen Punkt unterhalb des Bauchnabels und den Rhythmus ihres Atems. "All den Ballast, all die Gedanken, die durch den Kopf gehen", versucht sie "beiseite zu lassen". Das helfe auch im Laufe des Tages, Schwierigkeiten gelassener zu begegnen. "Nach dem ganzen Diätwahn", sagt Kerstin Schmidt, "habe ich zum ersten Mal den Eindruck, dass ich mein Leben besser gestalten kann."
Die Figur hat sehr viel mehr mit dem Gefühlsleben zu tun, als Forscher lange dachten:
Stress ist ein machtvoller Dickmacher - und der richtige Umgang mit Belastungen kann helfen, endlich schlank zu werden.
Fünfter Anlauf! Seit mehr als einer Stunde versuchte Krankenschwester Kerstin Schmidt, endlich Zeit für eine Kaffeepause zu finden. Doch immer wenn sie gerade auf dem Weg ins Schwesternzimmer war, klingelte das Telefon. Oder ein Kollege fragte nach der Dosis für ein Medikament. Oder ein Patient drückte die Ruftaste. Die 79-jährige Schlaganfallpatientin aus Zimmer 17 hatte heute Morgen schon dreimal geläutet, nur um immer wieder dieselbe Frage zu stellen: "Werde ich wieder laufen können?" Jetzt also noch einmal das Telefon.
Ehe Kerstin Schmidt nach dem Hörer griff, angelte sie sich eine Waffel mit Nussfüllung aus einer Schale voller Süßigkeiten. Nusswaffeln halfen. Schokoplätzchen, Vanillekipferl und Trüffelpralinen halfen, Mars und Snickers, Milka und Marzipan waren freundliche Tupfer im wirbelnden Alltag. Seelentröster, die für den Augenblick entspannten. Kerstin Schmidt ahnte, dass dies einer der Gründe sein mochte, weshalb sie aus der Form geraten war. Viele Jahre lang hatte sie ihren Speckpolstern immer aufs Neue den Kampf angesagt, Diäten probiert, aber am Ende doch nur zugenommen. Richtig schlimm wurde es, als sie die Leitung eines Pflegeteams übernahm, inzwischen wog sie 142 Kilo. Dabei war Kerstin Schmidt durchaus willensstark: Mit dem Rauchen konnte sie von einem Tag auf den anderen aufhören. Warum ging das nicht mit den Nusswaffeln? Mit den Schokoplätzchen und Kipferln?
Eine Frage, die auch die Wissenschaft beschäftigt. Wie kommt es, dass selbst disziplinierte Leute es oft nicht schaffen, ihr Gewicht auf Dauer im Griff zu behalten? Wie ist es möglich, dass uns die Lust auf Essen treibt - selbst, wenn wir keinen Hunger haben? In jüngerer Zeit ist es vor allem die Hirnforschung, die neue Antworten auf diese Fragen sucht und die damit Millionen von Diätgeplagten wieder Hoffnung schenken könnte: Übergewicht, so zeigen aktuelle Untersuchungen immer deutlicher, hat sehr viel mehr mit unserem Gefühlsleben zu tun als Forscher lange dachten. Stress und Frust sind potente Dickmacher. Und umgekehrt gilt: Der richtige Umgang mit ihnen hilft, aus langjährigen Pummeln wieder Schlanke zu machen.
Die Macht des Essens
Schon bei ausgeglichenen Normalgewichtigen ist die Steuerung von Appetit und Sättigung ein diffiziles Zusammenspiel von Sinnen und Organen mit vielfältigen Auswirkungen auf die Psyche: Mehr als 100 Signalstoffe sorgen für die Kommunikation zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers, wenn wir Appetit auf ein Schokotörtchen bekommen oder spontan ein Käsebrötchen kaufen. Am Anfang steht ein Mangel von frei verfügbaren Nährstoffen im Organismus, vor allem von Glukose und Fett. Das Gehirn registriert den Nachschubbedarf, während gleichzeitig vom Magen die ermunternde Nachricht eingeht, dass er völlig leer ist - Platz für neue Energiespender! Damit wir tun, was der Erhaltung unseres Körpers dient, erzeugen verschiedene Substanzen im Hirn nun im Zusammenspiel mit unserem Nervennetzwerk ein angenehm drängendes Gefühl: Appetit - in süddeutschen Dialekten treffend und lustbetont "Glust" oder "Gluschd" genannt - entfaltet sich in Lecker-Fantasien und Schlemm-Visionen. Schon die Vorstellung vom Schokotörtchen genügt bei den meisten Menschen, damit ihnen jetzt das Wasser im Munde zusammenläuft. Das Belohnungssystem des Gehirns wird in Erwartung des realen Törtchens aktiviert, der Stoffwechsel wegen anstehender Verdauung hochgefahren. Wenn das Objekt der Begierde schließlich greifbar wird, duftend und hübsch arrangiert, gibt es kein Halten mehr. Und was dann folgt, bildet den Kern der verführerischen Macht des Essens: Die Nahrungszufuhr dämpft das Stresssystem, Belohnungs-Callzentren im Gehirn schütten Glückshormone aus, die Stimmung färbt sich warm und wohlig, Bedrohungsgefühle schrumpfen zusammen. Besonders wirkungsvoll in dieser Hinsicht ist die kalorienreichste kulinarische Kombination: Fett plus Zucker. Schokolade kommt dem idealen Wohlfühlmix sehr nahe.
Das wäre alles in Ordnung - wenn die Zufuhr tröstender Törtchen gewichtsneutral geregelt würde. Doch leider ist, das können Forscher zuverlässig zeigen, die filigrane Botenstoffbalance keineswegs stabil. Und es sind die ohnehin Geplagten und Gestressten, die darunter ganz besonders leiden. Druck im Job oder eben kein Job, eine schwierige Partnerschaft, fortdauernde Sorge um die Kinder, die alten Eltern, den Kredit - all das kann nicht nur aufs Gemüt gehen, sondern auch auf die Hüften. Denn viel mehr als ausgeglichenere Zeitgenossen sehnen sich die Belasteten nach den guten Gefühlen, die Schokoriegel, Butterhörnchen und Vier-Käse-Pizza spenden können.
Bei Thomas Beck waren es zwei klassische Stressfaktoren, die die Lust aufs Essen befeuerten: Arbeitslosigkeit und der Tod der Mutter. Häufig lud er Gäste ein. Aber es gab auch die vielen einsamen Tage, die vielen schlechten Gefühle. "Ich habe angefangen, aus Langeweile und Frust zu essen", sagt der 31-jährige Bürokaufmann. "Gummibärchen, Schokolade, Chips, was ich kriegen konnte, vor allem vor dem Fernseher." Wer solch ein Trostessen über Jahre hinweg praktiziert, sorgt dafür, dass die positive Verknüpfung in seiner Steuerzentrale immer stärker wird. Er isst immer mehr - und wird immer dicker.
Einfluss der Psyche auf Essgewohnheiten
Fatalerweise fällt den meisten Gebeutelten gleichzeitig eine Diät, der Verzicht also auf die kleinen Glücksbringer, ganz besonders schwer. Eine, die das lernen musste, ist Becks Leidensgenossin Manuela Willmann*. Auch die 37-jährige Callcenter-Telefonistin ist ein Fall von massivem Stress: Sie leidet unter den Belastungen der Schichtarbeit, ihr Chef ist ungeduldig und übellaunig. Noch nie hatte Manuela Willmann eine feste Beziehung, oft fühlt sie sich allein und bedrückt, ein reich gedeckter Tisch ist ihr einziger Ausgleich nach einem nervenraubenden Tag. Als sie 104 Kilo wog und an der Galle operiert worden war, verordnete ihr der Arzt eine Reduktionskost mit nur 1000 Kalorien am Tag, dazu Nordic Walking. Doch Manuela Willmann schaffte das nur wenige Tage. Das magere Putenfleisch und die empfohlenen Gemüseportionen reichten ihr nicht. Sie wurde unruhig, hielt es einfach nicht mehr aus.
Wie stark das Seelenleben auf den Bauchumfang wirkt, belegt eine finnische Studie an eineiigen Zwillingen: Normalerweise ist das Gewicht von genetisch nahezu identischen Geschwistern fast gleich. Doch die finnischen Wissenschaftler fahndeten gezielt nach ungleichen Paaren, bei denen ein Zwilling deutlich korpulenter war als der andere. Sie fanden heraus, dass jeweils der dickere im Gegensatz zum leichteren Zwilling entweder unter psychosozialem Stress, Unzufriedenheit, Depression, Burnout-Syndrom oder Schlafproblemen litt. Die fülligeren, gestressten Zwillinge hatten bis zu dreimal so viel Bauchfett
entwickelt.
Weitere aktuelle Untersuchungen belegen, dass belastende Lebenssituationen sogar dann die Fettpolster anschwellen lassen, wenn der Organismus gar nicht mehr Nahrung bekommt. Forscher vermuten, dass das durch die Belastung vermehrt freigesetzte Cortisol den fein austarierten Stoffwechsel verändert. Offenbar bewirkt es eine effektivere Verwertung der Nahrung, die in Zeiten existenziellen Stresses für unsere Vorfahren sogar sinnvoll gewesen sein mag. Heute erzeugt der Speck einfach zusätzlichen Frust.
Coach-Potatoes
In seinem gerade erschienenen Buch "Lizenz zum Essen" beschreibt der Heidelberger Arzt Gunter Frank anonymisiert einen prägnanten Fall aus seiner Praxis, der die Forschungsergebnisse bestätigt: "Der neue Chef von Herrn Rundlich war unberechenbar und wollte, dass dieser bestimmte Mitarbeiter mobbt, damit sie freiwillig die Firma verlassen. Herr Rundlich weigerte sich und bekam dann selbst Schwierigkeiten. In dieser Zeit legte er deutlich an Gewicht zu. Vor allem sein Bauch war angeschwollen, und er wog über 100 Kilo. Ich konnte ihn überzeugen, keine Diät zu machen und stattdessen über berufliche Veränderungen nachzudenken. Erst zwei Jahre später ergab sich für ihn eine andere berufliche Möglichkeit, in der er sich viel wohler fühlte. Nach einem Jahr wog er etwa zehn Kilo weniger, und dieses Gewicht hält er nun, ohne je bewusst irgendwelche Veränderungen am Essverhalten vorgenommen zu haben."
Offenbar ist alles, was Körper und Seele nachhaltig stresst, dazu geeignet, das Gewicht in die Höhe zu treiben. Bei Wilfried Kuhr war es kein Chef, sondern der Job an sich: Die ganze Woche musste er als Fernfahrer unterwegs sein, er schlief wenig, fand auch sonst kaum Ruhe. Sicher, der 188-Kilo-Mann aß viel und falsch. Aber nach allem, was die Wissenschaft heute weiß, dürfte das eben nicht sein einziges Problem gewesen sein. So sind etwa Schichtarbeiter häufiger übergewichtig als Menschen, die ausschließlich tagsüber ihrer Arbeit nachgehen und regelmäßig schlafen - selbst wenn sie nicht mehr essen. Und bei einer Befragung von rund 1000 Personen fand der amerikanische Schlafforscher Robert Daniel Vorona heraus, dass dicke Menschen im Schnitt 16 Minuten weniger schlafen als schlanke. Die zusätzlichen Pfunde seien nicht allein dadurch zu erklären, so Vorona, "dass man mehr isst, wenn man länger aufbleibt". Der Körper scheint bei mangelndem Schlaf leichter Fett anzusetzen, selbst bei gleichbleibender Nährstoffzufuhr.
Genauso sind das ungezügelte Vertilgen von Knabberwaren und Süßigkeiten vor der Mattscheibe und der vermeintliche Bewegungsmangel der Couch-Potatoes nicht allein die Gründe, weshalb Fernsehen unter Experten als Dickmacher Nummer eins gilt. Vielmehr beeinflusst auch der Fernsehkonsum direkt den Stoffwechsel, indem er den Pegel des Stresshormons Cortisol nach oben treibt. Zudem spricht vieles dafür, dass das Dauergeflacker in den Abendstunden die Hirnregion irritieren kann, die über unseren Tag-Nacht-Rhythmus wacht. Es ist derselbe Bereich des Gehirns, in dem auch die Informationen zur Gewichtsregulation zusammenlaufen: der Hypothalamus.
Auswirkungen von Fernsehkonsum
In einem Versuch mit zwei Schulklassen im kalifornischen San José hatten die Forscher der Stanford University BMI, Taillenumfang, Ernährungs- und Fernsehgewohnheiten der Kinder ermittelt. Dann wurden die Schüler einer Klasse dazu angehalten, die Zeit für Fernsehen und Videospiele zu reduzieren. Nach einem halben Jahr hatte eine durchschnittliche Verkürzung der wöchentlichen Fernsehzeit von 15 auf 9 Stunden bei vielen der zurückhaltenden Fernsehgucker zu einer merklichen Abnahme des Körpergewichts und des Taillenumfangs geführt. Der Verzehr von Snacks spielte dabei kaum eine Rolle. Eine der größten amerikanischen Gesundheitsstudien, die Nurses' Health Study, an der mehr als 50.000 Krankenschwestern über einen Zeitraum von sechs Jahren teilnahmen, zeigte nicht nur, dass diejenigen Frauen, die am meisten Zeit vor der Glotze verbrachten, am meisten zunahmen, sondern auch, dass ausgiebiges Fernsehen den größten Einfluss auf die Gewichtszunahme hatte - mehr als Naschen oder Bewegungsmangel.
Besonders heimtückisch ist: Mit dem Anwachsen der Fettpolster sinkt die Bereitschaft zu körperlicher Aktivität, der Mensch wird träge - und dadurch noch dicker.
Nach wie vor predigen viele Abnehmexperten, dass guter Wille und Gemüseteller jeden Speckbauch schmelzen lassen. Aber viele, die es betrifft, sind inzwischen klüger. "Anfang letzten Jahres ist mir bewusst geworden, dass ich immer anfange zu essen, wenn ich unter Druck stehe", sagt etwa Lena Oden. Da hat sie "die Vollbremse gezogen". Nicht mit einer Diät, sondern mit selbst verordnetem Anti-Stress-Training: Wenn sie Frust hatte, holte sie sich nichts mehr zum Schlemmen, sondern reagierte sich beim Fitnesstraining ab. Sie lernte Entspannungstechniken, wurde ruhiger. Die Essbedürfnisse, sagt sie, veränderten sich dabei fast von selbst - und mit ihnen das Gewicht. Aus 98 Kilo wurden 66.
Das "selbstsüchtige Gehirn"
Auch erste Kliniken haben die Erkenntnisse der Wissenschaft in ihre Konzepte integriert: Sie bieten Spezialkost und Sport für aus der Form geratene Körper - und therapieren zugleich die Psyche. So lernen etwa Patienten in der Bad Rothenfelder Klinik Teutoburger Wald Stressabbautechniken wie die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Sie strecken sich mit geschlossenen Augen auf Liegesesseln aus, während eine Therapeutin mit ruhiger Stimme die Aufmerksamkeit auf verschiedene Körperpartien lenkt. Von Kopf bis Fuß werden nacheinander die einzelnen Muskelpartien zunächst angespannt, und nach kurzem Halten wird die Spannung wieder gelöst. Durch Konzentration auf den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung und die damit verbundenen Empfindungen lässt sich die Körperwahrnehmung verbessern und tiefe Ruhe erzielen. In der Deutschen Klinik für Naturheilkunde und Präventivmedizin im saarländischen Püttlingen wird zusätzlich zu solchen Entspannungsmethoden auf psychotherapeutische Sitzungen Wert gelegt. Übergewichtige finden dort Anleitung, wie sie belastende Lebenssituationen und Dauerstress besser in den Griff bekommen.
Besonders konsequent ist man an der Uniklinik Lübeck, und dies auf der Grundlage eigener Forschungen. Ein Team aus Medizinern, Hirnforschern, Psychiatern und Mathematikern hat die Zusammenhänge von Gewichtsentwicklung und Hirnstoffwechsel im Detail analysiert. Mit bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie gelang es den Wissenschaftlern, während verschiedener Belastungssituationen die Energieversorgung im Gehirn im Vergleich zum restlichen Körper zu messen. Dabei konnten sie zeigen, dass das Gehirn immer zuerst die eigene Versorgung sicherstellt, bevor es der Muskulatur, den Organen oder dem Fettgewebe etwas zuteilt. Die Forscher sprechen vom "Selfish Brain", vom selbstsüchtigen Gehirn.
Kein anderer Bereich des menschlichen Organismus ist so gefräßig wie die Zellen im Schädel. Obwohl sie bei Erwachsenen nur etwa zwei Prozent des Körpergewichtes ausmachen, verbrauchen sie etwa die Hälfte des Glukosezuckers, den wir täglich verzehren. "Das Gehirn orchestriert und manipuliert den Energiestoffwechsel", erklärt der Leiter der Forschungsgruppe, der Internist Achim Peters. "Wenn es ihm nicht gelingt, ausreichend Nachschub für sich aus dem Körper anzufordern, kompensiert es die Unterversorgung dadurch, dass es die Nahrungsaufnahme steigert und den Energieüberschuss dem Körper überlässt. Auf diese Weise kann langfristig eine Fettleibigkeit entstehen." Und was kann dazu führen, dass das Gehirn sich nicht ausreichend mit Glukose versorgt? Was bewirkt die "falsche Einstellung", die unseren Appetit steigert, obwohl längst genügend Nährstoffe zur Verfügung stehen? Auch hier ist die Antwort: Daueralarm für Körper und Seele. Gerät das Stresssystem über einen längeren Zeitraum ins Ungleichgewicht, könne das zu einer unnatürlichen Steigerung des Appetits führen, sagt Peters. "Durch chronischen Stress, Frust, Depression oder psychische Traumatisierungen gerät das Wechselspiel zwischen Hirnstoffwechsel und Stresssystem durcheinander, und das kann das Körpergewicht in die Höhe treiben."
"Train the Brain"
Auf der Grundlage dieser Ergebnisse erarbeiten die Wissenschaftler der Universität Lübeck derzeit ein neuartiges Abnehmkonzept, das sie "Train the Brain" nennen, trainiere das Gehirn. Sie setzen dabei neben regelmäßiger sportlicher Betätigung vor allem auf Gesprächstherapie, Verhaltenstraining, Entspannungsübungen sowie auf eine Verbesserung des Umgangs mit Emotionen.
Krankenschwester Kerstin Schmidt hat im vergangenen Jahr zusammen mit zehn anderen Patienten an dem Pilotprojekt teilgenommen und ohne jegliche Diät schon zwölf Kilo abgenommen. Und sie ist zuversichtlich, dass die Pfunde weiter purzeln werden. Wie alle Probanden bekam die 42-Jährige psychotherapeutische Unterstützung bei der Bewältigung von Konflikten im Alltag. So stellten die Programm- Teilnehmer in Rollenspielen Auseinandersetzungen mit Partnern oder mit Vorgesetzten und Kollegen nach und suchten Wege, die Probleme besser zu lösen. Außerdem lernte Kerstin Schmidt Entspannungsübungen und Achtsamkeitstechniken, mit denen sie ihre Emotionen besser wahrnehmen und einschätzen kann. Beim Essen gab es im Prinzip keine Verbote. Dreimal täglich durften sich die Probanden richtig satt essen. Lediglich Zwischenmahlzeiten waren tabu, um Stressbewältigung mit süßen Snacks von vornherein zu unterbinden. Und auch Lebensmittel mit künstlichen Süß- oder Aromastoffen galt es zu meiden, weil diese das Appetitsystem irritieren könnten.
"Ich habe seither einiges verändert", sagt Kerstin Schmidt selbstbewusst. "Zum Beispiel habe ich eine echte 30-minütige Pause bei meinem Pflegeteam eingeführt. Wenn es klingelt, muss die Bereitschaft ran, die anderen haben wirklich Ruhe." Das Naschen hat sie weitgehend im Griff. Außerdem achtet die engagierte Krankenschwester nun mehr auf sich, macht dreimal pro Woche Gymnastik und Gerätetraining im Fitnessstudio - und versucht, täglich zu meditieren. Seither endet ihr Tag mit Ruhe, nach all der Hektik im Krankenhaus: Sie sitzt entspannt auf einem Stuhl, schließt die Augen und konzentriert sich auf einen Punkt unterhalb des Bauchnabels und den Rhythmus ihres Atems. "All den Ballast, all die Gedanken, die durch den Kopf gehen", versucht sie "beiseite zu lassen". Das helfe auch im Laufe des Tages, Schwierigkeiten gelassener zu begegnen. "Nach dem ganzen Diätwahn", sagt Kerstin Schmidt, "habe ich zum ersten Mal den Eindruck, dass ich mein Leben besser gestalten kann."